St. Google und die Web-Drachen | CHECK.point eLearning
Die Zukunft des Web 2.0

St. Google und die Web-Drachen

Lahr, Januar 2008 - Auf der LEARNTEC 2008 diskutieren Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Verbänden über ungenutzte Wissensschätze und Informationsmonopole im Netz. Prof. Joachim P. Hasebrook, der die Kongress-Sektion und die gleichnamige Podiumsdiskussion "St. Google und die Web-Drachen: Massenbewegungen und Informationsmonopole im Internet" am 29. Januar 2008 auf der LEARNTEC moderiert, fasst hier seine Überlegungen zu "Lerntechnologie als Searchware, Selfware und Brainware" zusammen.




Gedanke und Tat

Die Gedanken der Väter und Mütter des heutigen World Wide Web, allen voran Tim Berners-Lee (2001), richten sich auf das Internet als "Semantisches Web", das Inhalte im Internet für Maschinen besser lesbar und interpretierbar macht. Bekanntermaßen ist das neue "Web 2.0" aber ein "Social Web", das durch die von rund eineinhalb Milliarden Internet-Nutzern beigesteuerten Inhalte, Meinungen und Kommentare geprägt ist: Aus dem Internet der Fakten und Marketingbroschüren ist ein Netz der Anschauungen und Gerüchte geworden.


Versucht man nun das Verhalten der Nutzer in einen Gedanken zusammenzufassen, so kann man zwar im nach hinein erklären, warum das Web 2.0 aus dem typischen Nutzerverhalten, der "Ökologie des Webs" gleichsam zwangsläufig entstehen musste. Weit schwieriger ist es, ein Bild der derzeitigen Entwicklungen und ihrer Konsequenzen zu bekommen, wie die Bewertung von Bildungsangeboten im Web zeigt.


"Es bedarf eines konfrontativen, sozialen Lernens. ELearning ist hier ähnlich unwirksam wie Vorträge", meint Prof. Rolf Arnold von der Technischen Universität Kaiserslautern. "Im Internet werden Lern Communities entstehen, die teilweise die Bedeutung von Universitäten annehmen", schreibt Axel Föry von Cisco Systems und der Wissenschaftsjournalist Joscha Remus erklärt: "Das Internet hat mobile Endgeräte erreicht -'Microlearning' heißt das neue Zauberwort".


Versucht man diese drei Meinungen zusammen zu fassen, so erhält man als Kurzfrom: "Konfrontative, mit Universitäten vergleichbare Lerngemeinschaften, die immer nur ein bisschen lernen (micro learning)" - was natürlich unsinnig ist.


Searchware

Auf der letztjährigen LEARNTEC ließen etliche leitende Firmenvertreter vernehmen, dass das Web 2.0 keine Neuerung für das eLearning sei, weil das Potenzial herkömmlichen Web 1.0 Based Trainings (WBTs) noch gar nicht ausgenutzt sei. Abgesehen davon, dass das Neue bald schon das Alte ist, auch wenn dessen Potenzial noch nicht ganz genutzt wurde, übersieht diese Einschätzung den dramatischen Wandel im Internet, den vielleicht die Übernahme des Videoportals "YouTube" durch die Such- und Werbemaschine Google für rund 1,65 Millarden US-Dollar am besten markiert: Suchen im Internet wird nicht mehr vom "Web-Drachen" Google allein dominiert.

Suchmaschinen sind zu langsam. Der Google Searchbot braucht zwei bis vier Wochen zur Indizierung eines Eintrags in einem Internet-Tagebuch, einem Weblog. Darauf spezialisierte Portale wie Technorati oder Blogger nur etwa eine Stunde. Die Analyse von Blog-Einträgen bietet schon heute ein viel bessere Vorhersage des Verkaufserfolgs für einen Kinofilm als jede andere Form der Marktforschung.

Einfache Textsuche reicht nicht mehr aus, weil sie zuviel Expertenwissen zur Eingabe von Suchbegriffen und zur Bewertung und Kombination von Suchergebnissen erfordert. Spezielle Suchmaschinen finden auf viele einfachere und bessere Weise Bilder, Videos, Musik, aber Meinungsbilder, Orte und ehemalige Schulkameraden: Das Netzwerkzeug "LinkedIn" organisiert berufliche Kontakte und sucht systematisch nach ehemaligen Schulkameraden oder Arbeitskollegen; "Sales Spider" wertet Firmenseiten aus, um geeignete Vertriebsmitarbeiter zu finden, die man z. B. bei der Konkurrenz abwerben kann.

Spezielle Suchmaschinen, wie "retrievr" erlauben das Malen einfacher Bildchen, die dann als Sucheingabe für das Auffinden ähnlich aussehender Bilder im Photoportal "flickr" genutzt werden, in dem sich Millionen von Fotos aus aller Welt befinden. Google stellte ein preisgekröntes Suchwerkzeug zum Auffinden von Kinofilmen nach persönlichem Geschmack, Sympathiewerten für Schauspieler kombiniert mit Bild- und Tonsuche vor - und dies sind nur ein paar Beispiele für das, was man vielleicht am besten als "soziale Suche" bezeichnen könnte.

Im Web 2.0 ersetzt die Vernetzung von Spezialisten vielfach die allgemeine Indexierung durch Suchmaschinen. Die in sogenannten Mashups (Internetdienste, die durch die Mischung von anderen Internetdiensten entstehen) gespeicherten Nutzerprofile und Nutzerdaten werden zunehmend automatisch ausgewertet, erweitert und verknüpft: Statt ein Mashup für das Speichern von Lesezeichen, eines für berufliche Kontakte, eines für private Kontakte, eines für Videos und wieder ein anderes für Fotos zu nutzen, stellen "Meta-Mashups" zentrale Sammelstellen für unsere sozialen Kontakte und von uns verwalteten oder verantworteten Inhalte zur Verfügung, die andere Mashups mit unseren Daten füttern und deren Ergebnisse an uns Nutzer zurück melden. Der derzeit populärste heißt "People Aggregator" - und viele andere werden folgen.

Während also das Geschäftsmodell der heutigen Web-Drachen ins Wanken gerät, sind die neuen Web-Drachen bereits im Anflug - wiederum angeführt von Google: Diese Web-Drachen sammeln nicht mehr Kopien von bestehenden Internet-Seiten und weisen ihnen einen Index und eine Bewertung zu; die neue Generation von Web-Drachen sammelt neue Stammdaten im Internet, die sie dann ganz für sich allein besitzen.


Gerade eben wird Google Earth Besitzer fast aller wichtigen Geodaten und baut damit das "Geo-Spatial Web". Damit werden Dienste wie "Upmystreet" in London möglich, mit denen man nicht einfach mit anderen Bloggern ins Gespräch kommt, sondern nur mit Bloggern aus der Nachbarschaft, indem man einen Radius um den eigenen Wohnort auf einer Stadtkarte angibt und "Upmystreet" eine Auswertung der Internet-Tagebücher durchführen lässt.


Google wurde durch den Aufkauf von YouTube auch Besitzer von digitalen Amateurvideos, die ein größeres Interesse genießen als Amateurfotos, die im zum Yahoo-Portal gehörenden "Flickr" gesammelt werden.

Vor allem aber beginnt sich das Internet in unsere alltäglich Umgebung auszubreiten, indem etwa kleine 2D-Barcodes (Markierungen wie auf den selbst ausgedruckten Fahrscheinen der Deutschen Bahn), von Handy-Kameras erkannt und als Einstieg in Internet-Informationen genutzt werden: Semapedia bietet die Möglichkeit Einträge aus dem Internet-Lexikon "Wikipedia" mit Hilfe des Handys geographisch zu verorten und durch Lesen einer Markierung, die beispielsweise an einem Gebäude oder Denkmal klebt, direkt mit dem Handy abzurufen.


Die Open Universiteit der Niederlande nutzt in ihrem Projekt "Campus Memories" eine ähnliche Technik, um Lerninhalte, Stundenpläne und Kommentare von Studierenden überall auf dem Campus speicherbar und abrufbar zu machen.


Selfware

Der bekannte Kolumnist und Internet-Kritiker Jeffrey Zeldmann schrieb in seinem Weblog "A List Apart", dass das Web 2.0 letztlich nur ein Marketing-Gag der Internet-Industrie sei, die einen neuen Boom auslösen möchte. Wenn es so wäre, dann müssten sich aber die auch von der Industrie unterstützen technischen Pläne eines "Semantischen Webs" durchgesetzt haben und nicht etwa das mehr oder weniger unerwartete Phänomene eines durch massenhafte Selbstpublikationen entstehenden Web 2.0.


Prominent ist im Internet nicht, wer eine hohe Trefferrate in Google hat, sondern wer an den richtigen Netzwerken teilnimmt. Und diese Netzwerke werden in enormer Geschwindigkeit zusammenwachsen und vereinheitlicht. Sie dringen zudem mit dem Internet in unsere gesamte Lebensumwelt vor.

Den Begriff "Selfware" habe ich von einer Ausstellung junger Künstler zur Eröffnung der neuen Kunsthalle im Jahr 2003, als Graz europäische Kulturhauptstadt war. Der Begriff macht deutlich wie sehr wir es bereits nach wenigen Jahren gewohnt sind, uns als software-artigen Teil eines umfassenden Computernetzwerks zu sehen.


Norbert Bolz (1998) sieht uns Menschen bereits als die empfindungsfähigen Teil des weltumspannenden Computernetzwerks, oder die "Sexualorgane des Computers", wie er sagt. Die massenhafte Nutzung von Avateren zur Bildung sozialer Treffpunkte, etwa in "Faceparty" (für die britische Jugend) oder "habbo" (für die finnische Jugend) scheint dies ebenso zu belegen wie der enorme Zustrom von Nutzern und nun rund drei Millionen Avataren, die die dreidimensionale Bilder- und Simulationswelt "Second Life" (SL) im Internet bevölkern.


Während die Möglichkeiten zur Selbstabbildung in Faceparty und Habbo noch begrenzt und gebührenpflichtig sind, bietet SL bereits vielfältige Möglichkeiten das Avatar-Selbst vor einem virtuellen Spiegel auszustatten und ins virtuell-reale Leben zu schicken, in welchem man beispielsweise die schwedische Botschaft besuchen kann, eine BMW-Niederlassung - oder eben das riesige Trainingszentrum von Thompson NETg, einem der größten Trainingsanbieter der Welt. Schon integrieren sich herkömmliche Lernplattformen, wie das weltweit am häufigsten eingesetzte Lern-Management-System (LSM), die Open Source Plattform "moodle" mit SL und werden zu "Sloodle".


Brainware

Viele Autoren haben bereits gemutmaßt, dass in Zukunft nicht mehr so sehr Gene vererbt werden, sondern eher die eigene Persönlichkeit konserviert werden wird. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits: 3D-Scans des eigenen Gesichts und menschlicher Bewegungen (motion tracking) ersetzen zunehmend einfache Avatare und erlauben zumindest in großen Filmproduktionen bereits den Einsatz künstlicher Figuren als dem Menschen gleichwertige Schauspieler.


Komplexe Modelle von Ideen und Gefühlen werden bereits im Computer simuliert und machen Avatare ihren Schöpfern immer ähnlicher. Es entsteht also eine Co-Evolution von "Genes, technologies and minds" durch bessere Avatare und Roboter, durch die Vernetzung von Web und Welt, durch die Modellierung von Gefühlen, kurz: durch eine immer engere Verbindung von Mensch und Computer.


Im Projekt "eDrama" der Universität Birmingham beispielsweise stellen Avatare in einem grafisch "Faceparty" oder "Habbo" ähnlichen Spiel die Schüler unterschiedlicher Herkunft in einer britischen Grundschulklasse dar. Der Computer lenkt einen der Avatare, der von den Kindern problemlos als Mitschüler akzeptiert wird, und trainiert so Grundschüler im Umgang mit Konflikten zwischen verschiedenen Kulturen.

"Niemand kann gelernt werden. Man kann nur selber lernen", gab Prof. Götz Werner, CEO der dm Drogeriemarktkette, der LEARNTEC 2007 ihr Motto. Dieses so einleuchtende Zitat wird jedoch jeden Tag weniger wahr: Nicholas Negroponte träumte in seinem bekannten Buch "Being Digital" noch von Computer, die sich einem menschlichen Partner gleich an ihre Benutzer anpassen. Heute aber passt sich das Gehirn an den Computer an - nicht umgehrt.


Cochlea-Implantate für Schwerhörige machten den Anfang, Kommunikationsdienste für Schwerstkranke machen Gedanken sichtbar, und das Gehirn-Interface für Schulkinder wird laut Gerald Maguire vom Stockholmer Royal Institute of Technology in nicht mehr als zehn Jahren folgen. Schon heute haben Millionen von Menschen mehr Leben im Internet als außerhalb.


In Zukunft werden wir ohne die Existenz im Internet nicht mehr auskommen. Vom Computer erzeugte Personen werden nicht nur reale Personen abbilden, sondern eine eigene Rolle im digitalen Leben spielen. Die Grenze zwischen "virtuell" und "real" wird völlig aufgehoben werden.

Zwei Beispiele machen dies deutlich: Cochlea-Implantate sind Hörgeräte, die Computersignale direkt ins Gehirn senden. Die Patienten lernen in etwa einem Jahr mit dem Computer zu hören. Patienten mit dem "Locked-In-Syndrom" können keinen Muskeln bewegen. Sie kommunizieren mit ihrer Umwelt durch eine Gehirnschnittstelle, die ihnen das Schreiben
am Computer ermöglicht. Auf Computerchips gezüchtete Nervenzellen erlauben einen direkten Datenaustausch zwischen Chip und Zelle. Damit wird die Computerein- und Ausgabe um etwa den Faktor 50 schneller als bisher.


Bislang wurden Tauben, Ratten und Affen darauf trainiert,
Roboter durch Gehirnaktivität zu lenken. Zusammenfassend zeigt sich, dass Searchware uns hilft immer und überall zu suchen - und gefunden zu werden. Selfware macht uns Nutzer selbst zu einem Teil des Internets. Und Brainware wird dazu führen, dass sich Teile unseres Gehirns an den Computer anpassen werden, was uns immerhin den Trost gewährt, der klügere Part in dieser Mensch-Computer-Partnerschaft zu sein, der ja bekanntlich immer nachgibt.