Machen digitale Medien empathielos?
"Wir finden menschliche Wesen interessanter als Objekte. Wenn Menschen einen Tisch und ein Gesicht anschauen, dann lässt sich normalerweise eine viel größere EEG-Aktivität beim Gesicht als beim Tisch beobachten", erklärt die bekannte Hirnforscherin. Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung hingegen differenzierten nicht und zeigten jeweils eine vergleichbare Reaktion. "Starke Internetuser weisen ein ähnliches Muster im Gehirn auf wie autistische Menschen", so Greenfield. Das lasse darauf schließen, dass digitale Medien Probleme mit Empathie und zwischenmenschlichen Beziehungen hervorrufen könnten.
Fertige Bilder statt eigene Phantasie?
Ein Grund: Kinder müssten heute immer seltener ihre Fantasie nutzen. „Das Schönste, was Sie für ein Kind tun können, ist ihm eine Geschichte vorzulesen, weil es dann seine Vorstellungskraft einsetzen kann“, so die Beststeller-Autorin. "Mit digitalen Medien ersetzen Sie das durch fremde Bilder, auch wenn diese vielleicht technisch sehr gut und clever gemacht sind." Beim Videospiel müssten die Spieler die Prinzessin nur retten. Wenn Kinder hingegen eine Geschichte hörten, versuchten sie sich vorzustellen, wie diese aussehen könnte und sie entwickelten Mitgefühl für sie. "Der Unterschied ist, dass andere Menschen dabei eine Bedeutung und einen Kontext bekommen."
Kürzere Aufmerksamkeitsspanne und höhere Risikobereitschaft
Der Umgang mit digitalen Medien bringe insgesamt gute und schlechte Veränderungen. "Positiv ist, dass durch moderne Technologien sozialisierte Menschen möglicherweise einen höheren IQ haben", meint Greenfield. Denn wer zum Beispiel mit Videospielen die mentale Beweglichkeit trainiere, könne Informationen schneller verarbeiten. Gleichzeitig könnte sich aber auch die Aufmerksamkeitsspanne verkürzen. "Wer Action-Spiele spielt, entwickelt vermutlich eine höhere Risikobereitschaft, weil man dabei lernt, dass bestimmte Handlungen keine Konsequenzen haben."
Social Media: Mehr Schein als Sein?
Die Ambiguität digitaler Medien zeigten auch Erfahrungen mit Social Media. "Wenn zum Beispiel ein guter Freund von Ihnen nach Australien geht, dann kann Social Media von Vorteil sein und Spaß machen." Anders verhalte es sich aber, wenn man in sozialen Netzwerken nur mit Menschen Kontakt habe, die man nicht persönlich kenne. Wer ein falsches Bild von sich selbst entwerfe und eine falsche Identität aufbaue, fühle sich einsamer. Denn dabei gebe man vor, eine Person zu sein, die man nicht ist. Dies könne zu einer schwach ausgeprägten Identität und geringem Selbstbewusstsein führen.
„Mind Change“ in der Arbeitswelt begegnen
"Vieles hängt davon ab, wie die Technologie eingesetzt wird", folgert die Britische Wissenschaftlerin. Für Personalverantwortliche komme es zukünftig darauf an, diese Entwicklungen zu erkennen – nur dann könnten sie entsprechend handeln. Menschen mit einer geringen Empathie-Fähigkeit und einer schwache Identität benötigten etwa ständiges Feedback. In diesem Zusammenhang sei es wichtig, Mitarbeitern einen Sinn für Identität zu vermitteln und ihnen zu zeigen, dass Aktionen und Konsequenzen zusammenhingen. "Unternehmen brauchen einen konzeptionellen Rahmen, damit die Mitarbeiter das Gesamtbild verstehen und die Arbeit für sie eine Bedeutung bekommt."
Freien Ausblick auf die Natur
Ein weiterer Aspekt: Viele Menschen fühlen sich angesichts der neuen Medienflut überfordert – vor allem am Arbeitsplatz. Um deren Wohlbefinden zu steigern, empfiehlt Greenfield Büros mit Zugängen ins Freie oder wenigsten einem Ausblick auf die Natur. "Untersuchungen zeigen, dass sich Kreativität steigern lässt, indem wir uns in natürlichen Umgebungen aufhalten. Wir wissen auch, dass Denken durch Spazierengehen angeregt wird." Deshalb sei es hilfreich, wenn Beschäftigte in einem Gebäude umhergehen könnten. Das habe zusätzlich den Vorteil, dass sie jemandem begegneten, der sie inspiriere, und dass sie ihre Augen in der bildschirmfreien Zeit entlastet würden.
Stressbewältigung statt Anti-Stress-Verordnung
Hilfreicher als eine gesetzliche Anti-Stress-Verordnung, die Mitarbeiter vor der Arbeit am Abend, am Wochenende oder im Urlaub schützen soll, findet die Hirnforscherin einen aktiven Umgang mit Überforderung. "Bis zu einem gewissen Punkt ist Stress ein Teil dessen, was uns als menschliche erwachsene Wesen ausmacht. Wir können nicht so tun, als gäbe es das nicht." Deshalb gehe es am Arbeitsplatz darum, den Beschäftigten bei der Bewältigung schwieriger Situationen zu helfen. Betriebe könnten entsprechende Trainingsangebote anbieten – etwa zu Achtsamkeit und Meditation. Aber eine Zauberformel, die für alle Menschen funktioniere, gebe es dabei nicht. Greenfield rät vielmehr: "Unternehmen müssen Menschen erlauben, sie selbst zu sein und ihre Talente zu entwickeln, wo auch immer diese liegen."
Weitere Handlungsempfehlungen und Informationen zum Phänomen „Mind Change“ gibt Susan Greenfield bei ihrem Vortrag auf der Messe Zukunft Personal in Köln.