Zieht Social Media einen Paradigmenwechsel nach sich?
Der Untertitel der Ringvorlesung "digital turn?" lautet: "studieren/kommunizieren/protestieren und die Macht des Digitalen". Was steckt dahinter?
Dr. Brigitte Kossek: Die Vortragenden der Ringvorlesung - ExpertInnen in Sachen Forschung, Lehre und digitale Medien - befassen sich mit der Frage, wie Erkenntnisprozesse und Handlungsspielräume durch digitale Medien beeinflusst werden. Aus der Perspektive unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen wird darüber nachgedacht, ob angesichts der breiten Integration von digitalen Medien in Lehr- und Lernprozesse und ihrer Bedeutung für Wissensgenerierung tatsächlich von einem "digital turn" gesprochen werden kann.
Was hat dies mit protestieren zu tun?
Dr. Brigitte Kossek: Die Integration von eLearning in die Lehre ist an der Uni Wien durch die Initiative des Vizerektorats für Entwicklung der Lehre seit 2003/4 längst Alltag; Lehrenden wird nun auch die Möglichkeit des Videostreaming ihrer Vorlesungen geboten. Lehrende und Studierende nutzen digitale Medien, schreiben Wikis, stellen Podcasts her ….
Social Media Tools werden auch zur Vernetzung und Mobilisierung genutzt. Die Protestbewegung der Studierenden 2009/10 nutzte diese Tools kreativ und anspruchsvoll. Sie erhielt im Mai 2010 sogar den Ehrenpreis der Ars Electronica für den Aufbau von "digital communities".
Warum das Fragezeichen: Ist der "Digital Turn" nicht längst vollzogen?
Dr. Brigitte Kossek: Die verschiedenen "turns", wie z.B. "linguistic", "cultural" oder "postcolonial turn" bezeichnen, kurz zusammengefasst, einen signifikanten Wandel von Leitgedanken, Prämissen, Bezugsrahmen, Theorien …, der die Basis für eine fundamentale Restrukturierung eines ganzen Forschungsbereichs im Sinne eines Kuhnschen Paradigmenwechsels darstellt.
"Turns" finden Ausdruck in neuen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern. Digitale Medien eröffnen neue Wissens-, Kommunikations- und Handlungsspielräume - eine noch nie dagewesene Bewegungsfreiheit. Doch ob tatsächlich von einem "digital turn" gesprochen werden kann, verlangt genauere Prüfung. Kritisch zu prüfen sind auch die sog. digitalen Bedingungen, die durch Macht- und Kontrollmechanismen strukturiert sind.
Unser Anliegen ist es, wie etwa im Einleitungsvortrag von meiner Kollegin Silvia Grillitsch dargestellt, Studierende sowohl zum Erwerb von digitaler Medienkompetenz als auch zu kontinuierlicher digitaler Medienkritik anzuregen.
Sie berücksichtigen historische Aspekte, beziehen philosophische Aspekte, sogar Künstler mit ein...
Dr. Brigitte Kossek: Um die Komplexität eines Themas transparent zu machen, erschien es uns wichtig, ExpertInnen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einzuladen. Gleichermaßen wichtig ist uns auch, Studierende mit inter- und transdisziplinären Perspektiven vertraut zu machen. Gerade weil der Schnittraum zwischen Wissenschaft, digitalen Medien und Kunst noch immer vernachlässigt ist, war uns die Einladung von Richard Kriesche, ein international bekannter Künstler und Kunsttheoretiker, der an diesen Schnittstellen arbeitet, ein Anliegen,
Und interessiert dies Studierende überhaupt? Oder nutzen junge Leute neue Medien und Kommunikationsformen ohne zu reflektieren - einfach weil sie mit diesen digitalen Tools und Informationskanälen aufgewachsen sind?
Dr. Brigitte Kossek: Studierende sind in der Regel interessierte, experimentierfreudige und kritische junge Menschen. Von guten Vorlesungen kann viel gelernt werden. Wir bieten darüber hinaus den Studierenden die Aufgabe "turn it digital", die in kleinen Teams durchgeführt werden kann. D.h. Studierende bereiten sich fragestellungsorientiert (zwei bis drei Fragen) auf die Vorlesung durch Literaturstudium vor, führen nach der Vorlesung ein Videointerview mit dem Lehrenden durch, und produzieren ein Videocast (Vor-/Nachspann, Schnitt).
Nach der Bearbeitung des Videos und der Freigabe durch die Lehrenden wird das Videocast bei Youtube und der CTL-Website veröffentlicht. Die meisten Studierenden widmen sich dieser Aufgabe mit großem Engagement. Sie erleben sich selbst als ProduzentInnen von Wissen. Diese Aufgabe fördert Verständnis und Selbstvertrauen ungemein.