Freier Zugang zu Bildungsmedien und Qualität
Seit 2006 veranstaltet die Schweizerische Stiftung für audiovisuelle Bildungsangebote SSAB gemeinsam mit verschiedenen Organisationen alljährlich das Swiss Forum for Educational Media SFEM. Welche Ziele verfolgt die Veranstaltung?
Dr. Hanna Muralt Müller: Das SFEM ist ein sehr wichtiges Tätigkeitsfeld der SSAB. Es führt Akteure und Entscheidungsverantwortliche aus Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, Verwaltung, Verbänden und Politik zu Expertengesprächen zusammen. Im Zentrum stehen Fragen der elektronischen Medien im Wissens- und Bildungsbereich.
Mit der Tagung schaffen wir zurzeit noch eher nationale Kontaktmöglichkeiten zwischen Anbietern und Nachfragern von Bildungsmedien und ermöglichen Synergien, öffnen uns aber zunehmend einem internationalen Publikum. Von anderen Tagungen unterscheidet sich das SFEM, indem es Expertengespräche in mehrteiligen Workshops ermöglicht. Den Keynotes und Kurzreferaten kommt eine Impulsfunktion für die Tätigkeit in den Workshops zu.
Wieso widmet sich das SFEM in diesem Jahr dem Thema "Open Educational Resources (OER): Freier Zugang zu Bildungsmedien und Qualität"?
Dr. Hanna Muralt Müller: Bei OER handelt es sich um elektronische Lehr- und Lernmittel, die im Internet frei zur Verfügung gestellt werden. Wie bei Open Access - dem Thema des SFEM 2007 - sind renommierte Universitäten, wie z.B. das Massachusetts Institute of Technology (MIT) oder die UK Open University, treibende Kräfte. Die Dynamik in Bezug auf Open Source, Open Acces, Open Educational Resources (OER) kommt heute aus dem angelsächsischen Raum.
Die Bewegung wird von großen Organisationen wie der UNESCO, der EU und der OECD breit unterstützt. OER wurzelt in akademischen Traditionen - Wissen als ein mit Steuern finanziertes Allgemeingut - und ist gleichzeitig Antwort auf den verschärften Konkurrenzdruck in einer globalisierten Wissensgesellschaft, in der sich die einzelnen Bildungsstätten positionieren müssen.
Das SFEM 2008 wird in fünf Keynotes und verschiedenen Workshops die Fragen ansprechen, wie es um die Qualität bei OER und um die Qualitätssicherung steht, insbesondere wenn Nutzende gleichzeitig Produzierende werden. Wie wird Qualität in Wissensnetzwerken sichergestellt? Wie werden die Lerninhalte nachgeführt? Stellen OER eine Konkurrenz für traditionelle Verlage und Lehrmittelverlage dar? Führen OER zu einem Kontrollverlust der Bildungsinstitutionen? Welches sind die Erfolgsfaktoren für OER?
Wie stellt sich das Thema OER in der Schweiz dar? Gibt es Unterschiede zu anderen Ländern?
Dr. Hanna Muralt Müller: Wissen ist eine Zukunftsressource und deswegen gerade für ein kleines Land wie die Schweiz sehr wichtig. Die Schweiz bekundet Mühe, bei der Anwendung der neuen Technologien mit den EU- oder auch den OECD-Ländern Schritt zu halten.
Die OECD empfiehlt, möglichst alle bestehenden digitalen Materialien aus dem kommerziellen Bereich oder aus dem Kulturerbe eines Landes für Lernzwecke zu nutzen. Angesprochen werden die Bibliotheken, Archive und Museen, interessanterweise nicht Radio und Fernsehen. Diese haben in der Schweiz einen verfassungsmäßigen Auftrag, zur Bildung und kulturellen Entfaltung beizutragen.
Die Vielsprachigkeit und Kleinräumigkeit der Schweiz bergen Vorteile. Man kennt sich - nicht nur aus Bildung, Wissenschaft und Kulturinstitutionen, sondern auch aus Medien und Wirtschaft. Die Verleger sind mit einem Workshop am SFEM präsent, unter den Partnern sind neben Bildungsinstitutionen auch das Ausbildungszentrum der schweizerischen Banken, CYP (Center for Young Professionals in Banking), die SWISSCOM, SWITCH, Credit Suisse, Produzenten (TATA) und Bundesstellen wie das Zentrum elektronische Medien des Verteidigungsministeriums.
Welche Bedeutung hat das Thema OER in Wissenschaft und Bildung?
Dr. Hanna Muralt Müller: Zweifellos werden die OER die Bildungslandschaft verändern. Es kann allerdings nicht das Ziel sein, den bisherigen Lerninhalt mit neuer Technologie zu vermitteln. Zu fragen ist, wieweit sich die Bildungsinhalte selbst, Werthaltungen, methodisch-didaktische Ansätze und die Organisation von Lehren und Lernen verändern und dies in sämtlichen Lehr- und Lernzusammenhängen.
Neben dem leichten Zugang zählt zur Offenheit der Lehr- und Lernmaterialien auch, dass diese sich für verschiedene Lehr- und Lernzwecke eignen und gratis oder zumindest erschwinglich sind. Was als Lehr- und Lernmaterial bezeichnet werden darf, darüber gibt es bisher keine eindeutige Regelung. Ein Entscheidungskriterium kann sein, ob die bereit gestellten Materialien bereits in einem formellen oder informellen Lehr- und Lernkontext zum Einsatz kamen und sich somit in der Praxis bewährt haben.
Wo liegen die größten Herausforderungen von OER?
Dr. Hanna Muralt Müller: Der Übergang vom Web 1.0 zum Web 2.0 ist durch eine wachsende Benutzerpartizipation geprägt. Konsumenten werden gleichzeitig zu Produzenten. Die oft hohe Qualität und Aktualität lässt die frei zugänglichen Angebote im Bildungsbereich zu einer ernsthaften Konkurrenz von Lehrmittelverlagen und Bildungsportalen heranwachsen.
Durch den Kontrollverlust seitens der Bildungsinstitutionen stellt sich die Frage, ob eine Qualitätssicherung im Web 2.0 überhaupt noch möglich ist. Im besten Fall könnte die Qualität der Bildungsangebote im Web 2.0 analog zur Wikipedia auch von den Nutzern selbst sichergestellt werden.
Allerdings knüpfen sich an die teils überhöhten Hoffnungen auch Enttäuschungen, wegen unüberwindbar erscheinender Hindernisse und Einschränkungen. Die Entwicklung, die Bereitstellung sowie der Unterhalt von OER sind häufig schlecht finanziert. Dies erfordert oftmals einen überdurchschnittlichen Einsatz der beteiligten Personen. Was nichts kostet, kann doch nichts taugen, so lautet die Meinung vieler Nutzer.
Um dem entgegen zu wirken wird BrightStat.com beispielsweise aus einem Workshop heraus einen Leitfaden entwickeln, in dem die wichtigsten Erfolgsfaktoren für die Umsetzung eines OER Projekts aufgelistet werden. Der Leitfaden soll sich an den Bedürfnissen von Projektleitern, aber auch von Nutzern orientieren. Dabei sollen Aspekte von der Projektidee, der Finanzierung, der Art der Lizenzierung, der Zielgruppenausrichtung, der Wahl der Technologie, der Implementierung, der Qualitätssicherung und der Unterstützung der Nutzer berücksichtigt werden.
Was erhoffen Sie sich vom SFEM 2008?
Dr. Hanna Muralt Müller: Es ergeben sich drei wichtige Problemfelder. Es geht darum, wie Interessierte sich einen Überblick über Nutzungstrends verschaffen - Open Source, Open Access und Open Educational Media sind nur drei unter vielen Stichwörtern.
Gerade bei Blogs wurde deutlich, wie rasch eine neue Technologie zu kaum vorhersehbaren neuen Nutzungen, ja neuen sozialen Phänomene führen konnte. Wie verschaffen wir uns also den nötigen Überblick über neue technische Trends und deren Nutzungspotenzial, deren Anstoßfunktion für wichtige sozialen Entwicklungen?
Ein anderes wichtiges Problemfeld betrifft Anreizsysteme, damit sich ein Markt für OER-Produkte entwickelt. Gefordert sind Privatunternehmen, Produzenten von Bildungsmedien und wissenschaftliche Verlage. Mit Open Access - der neuen Publikationspraxis im Wissenschaftsbetrieb - stehen wissenschaftliche Verlage längst vor neuen Herausforderungen. Gefragt sind neue Geschäftsmodelle.
Ein drittes Problemfeld liegt in der Herausforderung, das reichhaltige, im Netz bereits angebotene und für Bildungszwecke geeignete Material auch sinnvoll für Lehren und Lernen zu nutzen. Mit dem EU-Projekt Europeana sind Bibliotheken, Museen, Archive daran, das gesamte europäische Kulturerbe digital zu erschließen und zur Verfügung zu stellen.
Es liegt ein ungeheures Potenzial in den neuen Technologien, falls dieses richtig genutzt wird. Fazit: es braucht eine eigentliche Strategie für die elektronischen Bildungsmedien, speziell für OER. Das SFEM 2008 kann nicht bereits die Lösung aller Probleme liefern, doch die Veranstaltung kann zur Diskussion beitragen, die richtigen Strategien für die künftige Problemlösung einzuschlagen.